Sprechen über das Unfassbare
„Wer kein Kind verloren hat, kann das nicht nachvollziehen.“ Zustimmendes Nicken in der Runde. Es sitzen Eltern am Tisch, die alle ein Kind verloren haben. Durch einen tragischen Unglücksfall, einen Verkehrsunfall oder Suizid. Das war nicht vorhersehbar, sondern ist einfach passiert, von jetzt auf gleich. So ist es allen in der Gruppe ergangen. In diesem Kreis können sie über das, was passiert ist und wie sie damit zu kämpfen haben, offen sprechen. Jeder ist betroffen.
Wie geht man damit um, wenn der Sohn zuhause spielt, die Eltern kommen zurück und finden ihn leblos unter einem Sandhaufen? Wiederbelebungsversuche scheitern. Oder ein Anruf von der Firma kommt, der Sohn sei nicht zur Arbeit erschienen. Drei Monate später wird er gefunden. Er hatte sich in einem Wald erhängt. Wie wird man damit fertig, dass nachts Polizisten und ein Pfarrer klingeln und die Nachricht bringen, dass das Kind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, als unbeteiligter Mitfahrer?
„Man macht sich Vorwürfe nach einem Suizid, warum habe ich nichts gemerkt? Das wird das ganze Leben bleiben“, sagt eine andere Mutter. Sie habe lange darüber nachgedacht, ob sie mit den Vorwürfen, die sie sich mache, weiterleben könne. „Aber ich habe ja noch zwei weitere Kinder, war aber dann erst als Mutter immer schlecht drauf.“
„Unsere Söhne hatten untereinander immer ein gutes Verhältnis, auch zu uns Eltern“, erzählt ein Vater. Abends habe man noch mit dem Ältesten, der zu seiner Freundin gezogen war, telefoniert. Am anderen Morgen ist er tot. Er hat sich umgebracht. Der zweite Sohn schmeißt sein Studium, der jüngste „findet seinen Weg im Leben nicht“. „Wir leben in der ständigen Angst, dass den anderen auch was passiert, wenn sie in das Alter kommen“, beschreiben die Eltern ihre innere Zerrissenheit. Und fragen sich permanent, warum ihr Sohn das getan hat. Einen Abschiedsbrief hat er nicht hinterlassen, so wie die große Mehrheit derjenigen, die Hand an sich legen.
„Der Umgang mit dem anderen Kind wird behütender“, räumt eine andere Mutter ein. Was zu vielen Diskussionen führe, da sich dieses Kind oft eingeengt fühle. „Da werden schon Kleinigkeiten zu einer Herausforderung, loszulassen.“ Wobei der Umgang der überlebenden Geschwister mit dem Verlust ein ganz anderer sei als der der Eltern. Was allen Eltern, die an diesem Abend am Tisch sitzen, schwer fällt, ist der Umgang mit den Reaktionen der Außenwelt. „Viele wissen nicht, wie sie uns ansprechen sollen“, sagt ein Ehepaar.
Der Wunsch ist klar: „Andere sollen uns normal begegnen, so wie vorher.“ Doch das scheine alles andere als einfach zu sein. Ein einfacher Gruß wie „Hallo“ oder „Guten Tag“ würden den Eltern reichen. „Das ist besser als nichts oder die Straßenseite zu wechseln.“ Dass sie Zeit brauchen, um zu lernen, mit dem Verlust umzugehen, wird den Eltern vielleicht noch zugestanden.
Doch wenn man an den Arbeitsplatz zurückkehre und sofort mit einem „Jetzt erzähl doch mal“ konfrontiert werde – „das geht gar nicht“.
Es ist einer der seltenen Momenten, in denen sich Norbert Brockmann in die Diskussion einbringt. „Die anderen haben Angst, die wissen nicht, was die richtige Reaktion ist. Es muss Euch klar sein: Ihr geltet als schwierige Menschen aus der Sicht der anderen“, erläutert der Pastoralreferent der katholischen Kirchengemeinde Seliger Niels Stensen.
Noch schlimmer ist es für die betroffenen Eltern, wenn getratscht wird, Gerüchte in Umlauf gebracht werden. Da sind sich die Teilnehmer einig. Und Sätze wie „Jetzt muss aber mal gut sein“ oder „das Leben geht weiter“ signalisierten eigentlich nur das Desinteresse des Gegenübers am Schicksal der Eltern, stellt ein Vater fest. Zustimmendes Nicken bei den anderen.
„In einen Kindesverlust kann sich niemand hineinfühlen.“ Dieser Satz, so erzählt eine Mutter, habe sie immer wieder mal einer Freundin gesagt, die sich sehr bemüht habe. Als die Freundin dann überraschend ein Kind verlor, habe sie hinterher gesagt, „jetzt erst verstehe ich Dich“.
„Ein Platz bleibt für immer leer.“ Das ist so und daran ändert auch die Gesprächsgruppe nichts. „Aber sie hilft, etwas besser damit umzugehen, weil jeder den anderen versteht“, sagt ein Vater. Um dann leise Kritik zu äußern, nicht an der Gruppe. „Es gibt viel zu wenig davon, deshalb müssen wir so weit fahren.“ Die Eltern kommen aus dem nördlichen Westfalen – so auch aus Westerkappeln – und dem angrenzenden Emsland und Osnabrücker Raum.
Eine Gruppe dieser „Verwaisten Eltern“ wird von Eltern begleitet, deren Verlust schon mehrere Jahre zurückliegt. Norbert Brockmann betreut drei Gruppen „Die sind alle voll, mehr ist für uns zurzeit auch nicht möglich.“
Dass so eine Gruppe für die Betroffenen eine große Hilfe ist, wird dem Zuhörer an diesem Abend überdeutlich. Norbert Brockmann ist gerne Ansprechpartner ( ✆ 0 54 83/74 97 41).
Quelle: Westfälische Nachrichten